Der Fresskünstler

Lori Cheesecake: „Der Fresskünstler“, aus dem Amerikanischen „How I ate my mother“, von Urs Bramschlack übersetzt, broschiert, Umschlag aus Butterbrotpapier, 496 Seiten, 9.95.

Cheesecake hat sich eingegraben in die Fotoalben der Familie, hat unzähligen Berichten gelauscht und ihren Vater bis kurz vor dessen Tod gelöchert. Herausgekommen ist ein menschlich und sozial erschütternder Bericht, ein postindustriell moralischer Offenbarungseid.

Wellington Cheesecake wird in Indianapolis geboren, absolviert eine Ausbildung zum Chronographen, rutscht jedoch bald ab in den Teufelskreis von Alkohol und Drogen, da er seine Arbeit nicht wertgeschätzt findet, er seine Frau verlässt und sich beim Skateboard-Fahren zu allem Überfluss noch das Knie aufschürft.
„Mein Vater war ein guter Mensch.“
Lori Cheesecake bewahrt stets Ambivalenz. Sie ist Tochter, aber auch beredte Zeugin. „Uns fehlte an nichts“, schreibt sie, „keinem gab er alles und keinem nichts.“ Im vierten Jahr der Untätigkeit entdeckt der Vater seine Liebe zu Junkfood. Zuerst aus Langeweile, dann aus Berufung vertilgt er bald ein Dutzend Cheeseburger zum Frühstück, 1kg Pommes als Nachtisch – „Er konne sie als Fritten, aber auch geriffelt und als Gitter“ -, bevor er sich zum Mittagessen 14 Whopper gönnt.
„Da kannte er den Big Mac noch nicht.“

Endlich fühlt der Familienvater sich wertgeschätzt in dem, was er tut. „Sie grüßten ihn, wenn er den Burger betrat, und gaben ihm Spitznamen wie Fatboy und Slim Cheesy. Das gefielt ihm. So etwas hatte er zuvor nie. Man kann sagen, er entwickelte sein Talent und erarbeitete eine in sich ruhende neue Identität.“ Cheesecake verdreifacht innerhalb eines Jahres sein  Gewicht und beginnt sich zu professionalisieren. „Er besaß diese Gabe, Menschen für sich einnnehmen zu wollen, sie lachten immer, wenn sie ihn sahen.“ Ein ehemaliger Box-Promoter entdeckt bei einem Besuch Cheesecakes Fähigkeiten und regt an, fortan doch öffentlich zu essen und damit Geld zu verdienen.
„Manchmal hatte er sechs Auftritte an einem Tag. Wir reisten und sahen das Land. Für uns Kinder eine tolle Sache, wir kamen rum, merkten aber nicht, wie er zu leiden begann.“
Lori Cheesecakes Vater tritt in Burgerbuden auf, eröffnet Möbelhäuser mit 8kg Chicken Wings, nimmt an den 24 Stunden von Les Mans teil, frisst durch und spendet das Preisgeld nach Afrika, er lässt sich mit einer von Raketenwissenschaftlern entworfenen Eiskreme-Kanone stundenlang beschießen und fängt auch am Ende des Tages noch jede Kugel geschickt mit den Lippen. Er isst vor Spielen in Footballstadien, haut in Halbzeitpausen, während der örtliche Gospelchor im Takt wippt, vier Truthähne weg, einmal schmatzt er in Austin sogar die Nationalhymne. „Das war sein Höhepunkt. Er hatte den Auftritt auf DVD und sah ihn sich gerade am Ende stundenlang an.“ Wellington Cheesecake isst und isst und isst. „Als er 456kg auf die Waage brachte und wir Schwierigkeiten hatten, ihn zu bewegen, merkten wir, dass auch er ein Problem damit zu haben schien.“
Fotografien der frühen 70er zeigen Cheesecake als muskulösen, doch feinsinnig wirkenden Mann. Einmal sitzt er lachend mit der New York Times auf dem Schoss im Central Park. Nichts erinnert später mehr an diesen verschwundenen Menschen.
Lori Cheesecake gelingt der Spagat, den sensationslüsternen Freakshow-Journalismus ad absurdum zu führen, indem sie jenen in bewusster Manier unreflektiert einfach geschehen lässt. Den 496 Seiten merkt man nie an, dass eine Zwölfjährige sie verfasst hat, die Sprache wirkt natürlich und auf ungehobelte Weise authentisch.
Grenzwertig wird es, als sie davon berichtet, wie man in späten Jahren den Vater als lebendige Kanonenkugel durch Zirkuszelte zu schießen versucht, während er im Parabelflug 14 Hot Dogs verspeist, dies jedoch meist in Massenpaniken endet. Hier endet die Karriere ihres Vaters. Die Schausteller wenden sich ab, da sein Unterhalt zu teuer wird – „Sie sagten, sie könnten sich das Futter nicht mehr leisten“ –  und Cheesecake fällt zurück in alte Muster. Als er nur noch 48kg wiegt, gezeichnet vom Alkoholmissbrauch, will er ein letztes Mal auftreten, verschluckt sich jedoch gleich zu Beginn der Vorstellung an einer Erbse und stirbt.

So entwirft die  Autorin ein schillerndes und zugleich fratzenhaft wahrhaftiges Spiegelbild der amerikanischen Konsum-Gesellschaft, das nicht komischer Elemente entbehrt, einem die Cola und den Hackbraten aber auf lange Zeit vergällt.

Blurb
„Lori Cheesecake hat etwas zu erzählen.“ Der gute Freund

Lori Cheesecake: „Der Fresskünstler“, aus dem Amerikanischen „How I ate my mother“, von Urs Bramschlack übesetzt,broschiert, Umschlag aus Butterbrotpapier, 496 Seiten, 9.95
Cover-Inspiration: @jaywennington